Freitag, 11. April 2014

Album Artwork & Cover Design: David Bowie und Nick Lowe

Nicht die Musik steht hier im Mittelpunkt, sondern der erste Eindruck eines Musikalbums, das Album Artwork, das Cover Design.
Gegenübergestellt werden dabei immer zwei Album-Cover mit ähnlichem Charakter.

Diesmal wenden wir uns also gewissermaßen der Metaebene eines Album Artwork zu. Simpel eigentlich, aber vorzüglich. Es war im Jahr 1977, der Pub Rock in Großbritannien wurde bereits von Punk abgelöst, und David Bowie schuf sich seine eigene Art Decade, inspiriert von deutschen Bands wie Kraftwerk, NEU! und Can. Ein knappes Jahr vor seinem LP-Debüt Jesus of the Cool veröffentlichte Nick Lowe wiederum (fast zeitgleich mit Bowies Low) auf dem Stiff Label seine erste EP unter eigenen Namen. Und das Wortspiel nahm seinen Lauf... 

Low von David Bowie

Im Jänner 1977 erschien die erste Platte der so genannten Berlin-Trilogie von David Bowie. Titel des Albums: Low. Dieses Album markierte auch den Beginn der Zusammenarbeit mit Brian Eno. So ungewöhnlich diese desolate und fast schon depressive Grundstimmung der Musikstücke vor allem auf der zweiten Plattenseite war (und für viele möglicherweise heute noch ist), so fast schon transzendental mystisch bleibt einem das Cover Art selbst in Erinnerung, das eine Bearbeitung eines Szenenfotos vom Nicolas Roeg Film The Man Who Fell To Earth [Der Mann, der vom Himmel fiel; es war Bowies erste Hauptrolle in einem Spielfilm; Anm.] in Form eines wahren Low Profile darstellt. Der Arbeitstitel vom Low Album war übrigens New Music Night and Day, und somit kommen wir zum gegenüberstellenden Album von Nick Lowe.



Bowi von Nick Lowe

Barney Bubbles sorgte für das durchschnittliche Design (Foto: Peter Gravelle) der ersten EP von Nick Lowe, erschienen im Mai 1977. Seltsamer Titel: Bowi. Untertitel: Pure Pop For Now People. Eine gewitzte Anspielung bzw. Antwort auf David Bowies Album Low also. Lowe entschied sich für diese Wortspielerei, weil er es offenbar witzig fand, dass Bowie ein Album nach Lowe benannte (ohne freilich ihn zu meinen), dabei aber den letzten Buchstaben weg ließ. So benannte Nick Lowe seine EP also wiederum nach seinem Musikerkollegen und ließ ebenfalls den letzten Buchstaben weg. Bowi verhält sich demnach zu Bowie wie Lowe zu Low und die New Music Night and Day wie der Pure Pop For Now People. Ein klassischer Fall von typisch britischem Humor. 

Text: Manfred Horak

Mittwoch, 2. April 2014

Offener Brief an die Bundesregierung: Ist Österreich wirklich noch ein Kulturstaat?

Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, wendet sich in einem offenen Brief an die Bundesregierung. "Ist Österreich wirklich noch ein Kulturstaat, wie in politischen Sonntagsreden oft genug beschworen wird?" Diese Frage muss man sich angesichts einiger beschämender Fakten leider stellen.

Sehr geehrte Damen und Herren!

- Die Bundesmuseen haben zwar das "Sammeln" als gesetzlichen Auftrag bekommen, aber seit Jahren praktisch kein Budget für Kunstankäufe.

- Obwohl sich der reale Inflationsverlust seit 1999 auf ca. 30% aufsummiert hat, wurde die Basisabgeltung der Bundestheater und der Bundesmuseen seither - wenn überhaupt - nur marginal erhöht!

- Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung erhält jährlich ca. Euro 740 Millionen an Bundeszuschüssen. Der österreichische Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) hatte zuletzt ca. Euro 200 Millionen jährlich an Förderungen vergeben. Jetzt droht sogar die Halbierung des aktuellen FWF-Budgets!

- Das FWF-Programm zur Förderung künstlerischer Forschung hat jährlich Euro 2 (zwei!) Millionen zur Verfügung und ist ein international viel beachtetes Vorzeigeprojekt für intelligente Stimulierung künstlerischer Innovationskraft abseits des kommerziellen Kunstmarktes. Mit einer Bewilligungsrate von nur 10,7% ist die Chance gefördert zu werden, für KünstlerInnen noch wesentlich geringer als für WissenschafterInnnen.

- Der Wissenschaftsminister hat für den tertiären Bildungs- und Forschungssektor für die Jahre 2016 - 2018 ein Zusatzbudget von Euro 1,6 Mrd. gefordert. Damit könnte die Inflation ausgeglichen und die Betreuungsrelationen an den österreichischen Universitäten zumindest zu einem kleinen Teil an die Standards in Deutschland und der Schweiz angenähert werden. Das Finanzministerium zeigt dem Vernehmen nach kaum Verständnis für diese Forderung.

- Ein fertig geplantes Projekt zur Sanierung und Erweiterung der Universität für angewandte Kunst, an der mehr als 2.000 Personen unter räumlich unzumutbaren Bedingungen arbeiten und studieren, wird von der Bundesregierung aus Spargründen abgesagt. Am selben Tag beschließt diese Bundesregierung die Freigabe des 5-fachen Budgets für eine Luxus-Sanierung des Parlamentsgebäudes und die Anmietung der Hofburg als Luxus-Ausweichquartier für die Politiker. Die alte WU war ihnen nicht gut genug.

- Ein privater Kunstsammler fordert den Staat auf seine private Kunstsammlung aus Steuermitteln anzukaufen, damit sein Unternehmen und 4.000 Arbeitsplätze (sic!) gerettet werden können. Der Buchwert der privaten Kunstsammlung beträgt Euro 86 Millionen. Der Schuldenstand der Firma, die mit dem Verkauf der Kunstsammlung an den Staat saniert werden soll, beträgt laut Medienberichten mehrere hundert Millionen Euro. Der Kunstminister beruft einen runden Tisch unter Beteiligung des Eigentümers der Kunstsammlung, des Wirtschafts- und Wissenschaftsministeriums, des Sozialministeriums, des Finanzministeriums und der Gläubigerbanken ein.

- Der Vorsitzende der Universitätenkonferenz befürchtet öffentlich, dass die Universitäten infolge von drohenden Sparbudgets "Reduktionsprogramme" fahren müssen. Zu Gesprächen mit dem Finanzministerium wurde er bisher nicht eingeladen. Kunst und Wissenschaft als identitätsstiftende Elemente eines Staates, der außer dem geistigen und kreativen Potenzial seiner EinwohnerInnen über praktisch keine Ressourcen verfügt, sind am politischen Kommunikationsradar der Politik offenbar nicht existent.

- Kann man wirklich nur mehr auf der Ebene von riesigen Schuldensummen und gefährdeten Arbeitsplätzen argumentieren, um vielleicht politisches Gehör zu finden? Was bedeutet das für Universitäten und Kunstinstitutionen? Wie viele Arbeitsplätze müssen betroffen, wie groß muss der Schuldenstand sein, damit sich der Staat zu Investitionen in die Sicherung der Zukunft dieser Schlüssel-Institutionen für den Kulturstaat Österreich bereit findet? Welchen Stellenwert haben kleine innovative Start up-Unternehmen in den Bereichen Wissenschaft und Kreativwirtschaft und einzelne KünstlerInnen, DesignerInnen und MusikerInnen, deren Zukunft durch die Beschädigung der österreichischen Kunst- und Wissenschaftslandschaft nachhaltig gefährdet wird?

- In den letzten sechs Jahren wurden einer einzigen Bank Euro 7,7 Milliarden aus Steuergeldern zugeschossen. Das entspricht dem Budget aller österreichischen Kunstuniversitäten für 29 (neunundzwanzig!) Jahre. Noch genießen die österreichischen Kunstuniversitäten international einen ausgezeichneten Ruf, der den AbsolventInnen und nicht zuletzt der Republik Österreich zu Gute kommt. Noch!

- 0,7% des Staatszuschusses an die Hypo-Alpe Adria Bank oder 58% des Buchwertes der Sammlung Essl reichen aus, um den österreichischen Kunstuniversitäten die Inflation in den drei Jahren von 2016 - 2018 auszugleichen!

- Lediglich Euro 2 (zwei!) Mio. (0,02% der Hypo-Förderung oder 2,3% des Buchwertes der Sammlung Essl) reichen aus, um die Bewilligungsrate im FWF-Programm zur Förderung der künstlerischen Forschung von 10% auf 20% zu erhöhen!

- Mit dem Buchwert der Sammlung Essl kann die geplante Erweiterung der Universität für angewandte Kunst Wien mindestens 15 Jahre lang finanziert und damit ihr internationaler Ruf gesichert werden.

- Im April soll das Parlament das neue Bundesfinanzrahmengesetz für die Jahre 2015 - 2018 beschließen. Wann lässt der Finanzminister endlich die Katze aus dem Sack? Wann deklariert er sich zur Frage, ob "systemrelevant" nur die Schuldenübernahme einer bankrotten Bank und die "Rettung" von Arbeitsplätzen in einem Baumarktkonzern sind oder zumindest im gleichen Ausmaß auch Investitionen in die Sicherung der Zukunft unserer Kunst- und Wissenschaftsinstitutionen.

Ich kenne das Argument, man dürfe nicht unterschiedliche Bereiche gegeneinander ausspielen. Ganz in diesem Sinne fordere ich Sie auf, danach zu handeln: Spielen Sie die Zukunft nicht gegen die Vergangenheit aus. Lassen Sie die Zukunft nicht gegen die Fehler der Vergangenheit verlieren. Setzen Sie Fakten zur Sicherung der Zukunft für das Bestehen Österreichs in der "Kreativ- und Innovationsgesellschaft" des 21. Jahrhunderts ((C) Europäische Union):

1. Zumindest volle Inflationsabdeckung für das Budget der österreichischen Kunstuniversitäten in der kommenden Leistungsvereinbarungsperiode 2016 - 2018

2. Zumindest volle Inflationsabdeckung für das Budget des FWF auf der Basis des aktuellen Fördervolumens

3. Erhöhung des Budgetvolumens für das FWF-Programm zur Förderung der künstlerischen Forschung von Euro 2 Mio. auf Euro 4 Mio. jährlich

4. Freigabe der Finanzierung für die seit mehr als 10 Jahren vom Wissenschaftsministerium und in dessen Auftrag von unabhängigen Gutachtern geprüfte, als notwendig erachtete und schriftlich zugesagte Flächenausweitung der Universität für angewandte Kunst Wien in räumlicher Nähe zum Hauptstandort Oskar-Kokoschka-Platz

Mit besten Grüßen
Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien
27.3.2014

Dienstag, 1. April 2014

Premierenkritik von "Kurt Tucholsky trifft Hanns Eisler: Rosen auf den Weg gestreut" im Theater Spielraum

"Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andere werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. ›Stützungsaktion‹, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, daß die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr." Was sich wie eine satirische Erklärung zu aktuellen Anlässen liest, ist ein kurzer Abriss aus "Kurzer Abriß der Nationalökonomie" von Kurt Tucholsky, veröffentlicht am 15.9.1931. "Nationalökonomie ist", so schrieb er darin eingangs, "wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben." Ein Text der letzten Endes so etwas wie das Herzstück des Abends war, wenn auch beileibe nicht der einzige mit starkem Gegenwartscharakter. Die Wahrheit gilt nämlich auch dann schon, wenn noch keiner sie erkennt, sagen die einen, wobei andere dem entgegenhalten, dass man das Heute (die 2010er Jahre) mit der Welt von Gestern (die 1920er Jahre) nicht vergleichen kann. Was in jedem Fall übrig bleibt sind unzählige bis heute erinnerungswürdige Texte (Prosaische wie Liedtexte oder Gedichte), sowie der bis heute moderne musikalische Zugang aus den Jahren zwischen Weltkrieg I und Weltkrieg II. Einer der beliebtesten und populärsten Autoren in der breiten Bevölkerung war sicherlich Kurt Tucholsky, wenn auch nicht bei denen da oben. So versuchte z.B. der Börsenverein mit allen Mitteln einen Boykott von Kurt Tucholskys Textsammlung "Deutschland, Deutschland über alles" durchzusetzen, was dem Börsenverein allerdings nicht gelang, Tucholsky feierte damit nämlich einen seiner größten Bucherfolge. In gewisser Weise ein Fan von Kurt Tucholsky war wiederum der österreichische Komponist Hanns Eisler (persönlich begegnet sind sich die beiden nie), der laut Werkliste 40 Lieder nach Texten von Kurt Tucholsky schrieb, und einen Teil davon brachten Tristan Jorde und Kristin Kehr zu Gehör, begleitet von Elisabeth Herscht-Garrelts am Klavier. 

Das Leben muss man kauen!
Revuehaft wird das Stück zusammengehalten und vorangetrieben, umrahmt von biografischen Sprechnotizen, die den Musiktheaterabend einleiten und ausblenden. Besonders stark herausgeschält in dieser szenischen Abfolge ist die Treffsicherheit der eingangs erwähnten wagemutigen Prognosen, aus der sich die Frage ableiten lässt wie es um die Vergegenwärtigung vergangener Zeiten als Möglichkeit kultureller Orientierung steht, also quasi die Beziehungen zwischen Politik und Musik, das Verhältnis von Musik und Macht bzw. Herrschaft. Politische Musik ist freilich das Spielen von Nationalhymnen bei Staatsakten genauso wie das Singen auf Demonstrationen. Die Lieder von Hanns Eisler zu den Texten von Kurt Tucholsky (nicht zu vergessen die langjährige Zusammenarbeit von Hanns Eisler und Bertolt Brecht, deren Lieder an diesem Abend allerdings außen vor blieben) gehen darüber hinaus. Sie sind ebenfalls politische Lieder, aber eben auch weit mehr, oder, wie Hanns Eisler einmal kritisch anmerkte: "Unfähig, die gesellschaftliche Situation zu verstehen, schreibt er [der moderne Musiker; Anm.] Musik, die über alles Menschliche erhaben ist." Hanns Eisler zielte jedenfalls mit seiner Musik, so wie auch ein Dmitrij Schostakowitsch oder Mikis Theodorakis, mit einer Zurücknahme des kompositorischen Anspruchs auf unmittelbare Verständlichkeit. Und genau an diesem Punkt kamen die Texte von Kurt Tucholsky ins Spiel. Die Satire. Der Spott. Die Warnung. Die Hoffnung und der Spaß. Letzteres ist z.B. im grandios verzärtelten Lied über Anna Luise zu hören: "Wenn die Igel in der Abendstunde / still nach ihren Mäusen gehen / hing auch ich verzückt an deinem Munde / und es war um mich geschehn..." Wie hier und in anderen Liedern Tristan Jorde es versteht feine Nuancierungen zu setzen ist erstaunlich, umso mehr, da man ihn bisher in erster Linie als sehr guten Schauspieler bzw. Performancekünstler (Stichwort Ernst Jandl) wahrgenommen hat und weniger als Sänger. Ungleich schwerer tat sich hingegen die in Hamburg lebende Schauspielerin Kristin Kehr in den hohen Gesangsparts, davon abgesehen harmonieren die beiden bestens und ihnen gelang mit "Rosen auf den Weg gestreut - Eisler trifft Tucholsky" ein pointiertes wie kurzweiliges szenisches Stück. An Highlights hat es jedenfalls nicht gemangelt, sei es in der bitterbösen Textsatire "Der Mensch" (Man könnte den Menschen gradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört. Wenn er weise ist, tut er damit recht: denn Gescheites bekommt er nur selten zu hören.), sei es in Liedern wie "Rosen auf den Weg gestreut" (Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft). Kurt Tucholsky definierte seine Texte als Tendenzkunst, als operative Dichtung im Dienste politischer Aufklärung und Veränderung. Kompromisslose und intelligente Texte, die Dank Hanns Eisler ein zeitloses musikalisches Kleid erhielten. Mehr noch als die Texte von Kurt Tucholsky gilt es aber eigentlich das umfangreiche musikalische Schaffen von Hanns Eisler wieder zu entdecken - Jorde/Kehr/Herscht-Garrelts haben mit diesem eigen produzierten Themenabend einen ersten wichtigen Schritt gesetzt, und da kann man eigentlich nur Danke sagen. "Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben, und füge noch hinzu, daß sie so gegeben sind wie alle Waren, Verträge, Zahlungen, Wechselunterschriften und sämtliche anderen Handelsverpflichtungen -: also ohne jedes Obligo."

Text: Manfred Horak
Fotos: Barbara Palffy

Kurz-Infos:
Rosen auf den Weg gestreut
Theater Spielraum
Kritik zur Premiere am 27.3.2014


Von und mit Tristan Jorde und Kristin Kehr
Am Klavier: Elisabeth Herscht-Garrelts


Nächster Termin:
17.5.2014 (Porgy & Bess; 19 Uhr)

Premierenkritik zum Theaterstück ALLERWELT im Schauspielhaus Wien

Ausgangspunkt ist die in Wien Simmering gelegene Flüchtlingssiedlung Macondo, ums Wurzeln schlagen in der Fremde wie eine Karotte, wie wir gleich zu Beginn des Stücks erfahren. Macondo steht (mittlerweile) auch für (beinahe) Hundert Jahre Einsamkeit - im Jahr 1915 wurde nämlich dieser letzte große Kasernenbau der Monarchie in Wien fertig gestellt, und tatsächlich irgendwann nach dem fiktiven Dorf aus dem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel Garcia Marquez umbenannt. Macondo in Wien Simmering ist ein Ort, in dem Flüchtlinge von aktuellen Kriegsschauplätzen aus allen Teilen der Welt auf Bewohner, die seit 1956 ihren Heimatort gefunden haben, treffen. Diese Entwurzelung, Verwurzelung, Erlebnisse und Traumata werden in "Allerwelt" in zahlreiche Geschichten verpackt. Die Erzählenden sind die Flüchtlinge selbst, wobei hier offensichtlich Fiktion mit Realität verwoben wird und starke Anleihen an Alice im Wunderland von Lewis Carroll Eingang finden, aber auch in Tausendundeine Nacht mit der endlos verwobenen Geschichte von Scheherazade, und nicht zuletzt im Koran, Sure 20, Vers 56: "Bist du zu uns gekommen, um uns mit deiner Zauberei aus unserem Land zu vertreiben?" Ähnlich wie generell in Sure 20 enthält jede der Allerwelt-Geschichten verschiedene Aspekte und jede Biografie hat Details, welche in keiner anderen enthalten sind, und so wie der Koran selbst Erinnerung ist, sind die erzählten Geschichten Erinnerung.  
 
Geschichten zu erzählen, die bislang ungehört waren
Die Bühne (zu Beginn mit durchsichtigem Vorhang), gekonnt umgesetzt von Janina Audick, zeigt in der Eingangssequenz bildhafte Szenen. Sehr beeindruckend, dabei ziemlich spooky und gleichzeitig mit einer irritierenden Ästhetik, bewegt sich Barbara Horvath zu "Machine Gun" von Portishead. Eine Szene, die immer wieder vorkommt, mal mit, mal ohne Musik, und eine große Traurigkeit und eine noch größere Traumata in sich birgt. Flüchtlinge aus verschiedenen Jahrzehnten und unterschiedlichen Ländern - Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Chilenen auf der Flucht vor dem Pinochet Regime (frühe 1970er Jahre) und Flüchtlinge aus Tschetschenien, Türkei, Somalia, Afghanistan, Iran, Irak - erzählen ihre Geschichte. Durch das Stück führt in gewisser Weise Mila Katz, quasi die Alice aus dem Wunderland, dargestellt von der hervorragenden Nicola Kirsch. "Ich habe in meiner Auseinandersetzung versucht, auch Geschichten zu erzählen, die bislang ungehört waren", so Stückeschreiber Philipp Weiss, "Geschichten, die die gängigen Erwartungen darüber, was ein Flüchtlingsschicksal ist und wie es zustande kommt, auch unterlaufen."

Obszön und heftig bis poetisch, polemisch, humoristisch
Jugendslangs und diverse Akzente, wie z.B. deutsch-ungarisch - voll aufgehend in seiner Rolle dabei Steffen Höld als ungarischer Grenzbeamter Gaspar - bestimmen das Sprachbild, von obszön und heftig bis poetisch, polemisch, humoristisch. Pantomimik entsteht schließlich dort, wenn die Sprache Pause hat bzw. nur sehr sparsam eingesetzt wird. Besonders auffällig und gelungen z.B. die Gesichtsartistik von Katja Jung, die im pompösen Kleid durch ihr Königinnengehabe besticht und an eben diese Wunderlandfigur erinnert. Sehr präsent auch die großartige Veronika Glatzner als Mutter, die mit ihren beiden Kindern (Theodora Guschlbauer und Simon Maurer) ständig auf der Flucht ist. Großer Schwachpunkt des Stücks ist die Szene zum Prager Frühling 1968. Hier schwächelt es im Text gewaltig. Grandios hingegen der Schlussteil mit dem superben Florian Manteuffel als chilenischer Revoluzzer Guillermo und einer aberwitzigen Simultanübersetzung von Katja Jung. Da schließt sich dann der Kreis zum Beginn des Stücks, in dem ein letztes Mal der Versuch gestartet wird den Ort Allerwelt zu definieren. Im Gedächtnis bleiben allerdings frühe Dialoge wie "Entschuldigung, ich bin fremd hier." - "Entschuldigung, das sind wir alle!", und Aussagen wie "Die Revolution ist nicht tot. Sie ist noch nicht geboren." Nach einigen Schweigeminuten endet das Stück. Der Schlussapplaus ist dafür umso lauter. 

Text: © Manfred Horak
Fotos: © Alexi Pelekanos

Kurz-Infos:
Allerwelt
Schauspielhaus Wien
Kritik zur Premiere am 20.3.2014
Weitere Termine:
4.4., 15.4., 16.4.



Autor: Philipp Weiss
Regie: Pedro Martins Beja
Bühne/Kostüme: Janina Audick
Musik: Jörg Follert
Video: Sacha Benedetti

Mit:
Veronika Glatzner, Barbara Horvath, Steffen Höld, Katja Jung, Nicola Kirsch, Florian von Manteuffel, Gideon Maoz, Simon Zagermann
Kinder:
Theodora Guschlbauer, Simon Maurer