Ausgangspunkt ist die in Wien Simmering gelegene
Flüchtlingssiedlung Macondo, ums Wurzeln schlagen in der Fremde wie eine
Karotte, wie wir gleich zu Beginn des Stücks erfahren. Macondo steht
(mittlerweile) auch für (beinahe) Hundert Jahre Einsamkeit - im Jahr 1915 wurde
nämlich dieser letzte große Kasernenbau der Monarchie in Wien fertig gestellt,
und tatsächlich irgendwann nach dem fiktiven Dorf aus dem Roman "Hundert Jahre
Einsamkeit" von Gabriel Garcia Marquez umbenannt. Macondo in Wien Simmering ist
ein Ort, in dem Flüchtlinge von aktuellen Kriegsschauplätzen aus allen Teilen
der Welt auf Bewohner, die seit 1956 ihren Heimatort gefunden haben, treffen.
Diese Entwurzelung, Verwurzelung, Erlebnisse und Traumata werden in "Allerwelt"
in zahlreiche Geschichten verpackt. Die Erzählenden sind die Flüchtlinge
selbst, wobei hier offensichtlich Fiktion mit Realität verwoben wird und starke
Anleihen an Alice im Wunderland von Lewis Carroll Eingang finden, aber auch in Tausendundeine Nacht mit der endlos verwobenen Geschichte von Scheherazade,
und nicht zuletzt im Koran, Sure 20, Vers 56: "Bist du zu uns gekommen, um
uns mit deiner Zauberei aus unserem Land zu vertreiben?" Ähnlich wie generell in
Sure 20 enthält jede der Allerwelt-Geschichten verschiedene Aspekte und jede
Biografie hat Details, welche in keiner anderen enthalten sind, und so wie der
Koran selbst Erinnerung ist, sind die erzählten Geschichten Erinnerung.
Geschichten zu erzählen, die bislang ungehört waren
Die Bühne (zu Beginn mit durchsichtigem Vorhang), gekonnt umgesetzt
von Janina Audick, zeigt in der Eingangssequenz bildhafte Szenen. Sehr
beeindruckend, dabei ziemlich spooky und gleichzeitig mit einer irritierenden
Ästhetik, bewegt sich Barbara Horvath zu "Machine Gun" von Portishead. Eine
Szene, die immer wieder vorkommt, mal mit, mal ohne Musik, und eine große
Traurigkeit und eine noch größere Traumata in sich birgt. Flüchtlinge aus
verschiedenen Jahrzehnten und unterschiedlichen Ländern - Ungarn 1956,
Tschechoslowakei 1968, Chilenen auf der Flucht vor dem Pinochet Regime (frühe
1970er Jahre) und Flüchtlinge aus Tschetschenien, Türkei, Somalia, Afghanistan,
Iran, Irak - erzählen ihre Geschichte. Durch das Stück führt in gewisser Weise
Mila Katz, quasi die Alice aus dem Wunderland, dargestellt von der
hervorragenden Nicola Kirsch. "Ich habe in meiner Auseinandersetzung versucht,
auch Geschichten zu erzählen, die bislang ungehört waren", so Stückeschreiber
Philipp Weiss, "Geschichten, die die gängigen Erwartungen darüber, was ein
Flüchtlingsschicksal ist und wie es zustande kommt, auch unterlaufen."
Obszön und heftig bis poetisch, polemisch, humoristisch
Jugendslangs und diverse Akzente, wie z.B. deutsch-ungarisch - voll aufgehend in seiner Rolle dabei Steffen Höld als ungarischer
Grenzbeamter Gaspar - bestimmen das Sprachbild, von obszön und heftig bis
poetisch, polemisch, humoristisch. Pantomimik entsteht schließlich dort, wenn
die Sprache Pause hat bzw. nur sehr sparsam eingesetzt wird. Besonders
auffällig und gelungen z.B. die Gesichtsartistik von Katja Jung, die im
pompösen Kleid durch ihr Königinnengehabe besticht und an eben diese Wunderlandfigur
erinnert. Sehr präsent auch die großartige Veronika Glatzner als Mutter, die
mit ihren beiden Kindern (Theodora Guschlbauer und Simon Maurer) ständig auf
der Flucht ist. Großer Schwachpunkt des Stücks ist die Szene zum Prager
Frühling 1968. Hier schwächelt es im Text gewaltig. Grandios hingegen der
Schlussteil mit dem superben Florian Manteuffel als chilenischer Revoluzzer Guillermo
und einer aberwitzigen Simultanübersetzung von Katja Jung. Da schließt sich
dann der Kreis zum Beginn des Stücks, in dem ein letztes Mal der Versuch gestartet
wird den Ort Allerwelt zu definieren. Im Gedächtnis bleiben allerdings frühe Dialoge wie "Entschuldigung, ich bin fremd hier." - "Entschuldigung, das sind wir alle!", und
Aussagen wie "Die Revolution ist nicht tot. Sie ist noch nicht geboren." Nach
einigen Schweigeminuten endet das Stück. Der Schlussapplaus ist dafür umso
lauter.
Fotos: © Alexi Pelekanos
Kurz-Infos:
Allerwelt
Schauspielhaus Wien
Kritik zur Premiere am 20.3.2014
Weitere Termine:
4.4., 15.4., 16.4.
Autor: Philipp Weiss
Regie: Pedro Martins Beja
Bühne/Kostüme: Janina Audick
Musik: Jörg Follert
Video: Sacha Benedetti
Mit:
Veronika Glatzner, Barbara Horvath, Steffen Höld, Katja Jung, Nicola Kirsch, Florian von Manteuffel, Gideon Maoz, Simon Zagermann
Kurz-Infos:
Allerwelt
Schauspielhaus Wien
Kritik zur Premiere am 20.3.2014
Weitere Termine:
4.4., 15.4., 16.4.
Autor: Philipp Weiss
Regie: Pedro Martins Beja
Bühne/Kostüme: Janina Audick
Musik: Jörg Follert
Video: Sacha Benedetti
Mit:
Veronika Glatzner, Barbara Horvath, Steffen Höld, Katja Jung, Nicola Kirsch, Florian von Manteuffel, Gideon Maoz, Simon Zagermann
Kinder:
Theodora Guschlbauer, Simon Maurer
Theodora Guschlbauer, Simon Maurer
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